LANDSCHAFT ALS PROJEKTION UND ERLEBNISRAUM


Bruno Hadjih: Still aus dem Film Nomadland Radioactif, 2021
LANDSCHAFT ALS PROJEKTION UND ERLEBNISRAUM (SUSANNE GRUBE)

Als ich in Vorbereitung auf Redraw Tragedy in meinem Umfeld gefragt habe, „Was fällt dir zum Thema Landschaft und Katastrophe ein?“, waren es Szenen von Vulkanausbrüchen, Tsunamis oder Flutkatastrophen, kaputte Autos und flüchtende Menschen, jeweils die neuesten, sich in den Medien ablösenden Katastrophen aus nahen bis weit entfernten Gegenden und der mögliche Zusammenhang zum Klimawandel. Auf den Bereich der bildenden Kunst eingegrenzt, bot sich allerdings ein diffuses Bild: Eine Fotografie nach dem Wirbelsturm Katrina, ein Gemälde zum Krieg von Otto Dix, ein Schneesturm in den Alpen von William Turner. Geht es da überhaupt um Landschaft? Angesichts eines Themas, das den Globus umspannt, dehnt sich das Feld unermesslich. Überlegungen, die die Begriffe Landschaft und Katastrophe im Bezug zur Kunst zusammenbringen wollen, grenzen das Terrain kaum ein, weil sie den Kontext jedes einzelnen Werks erweitern. Die Vorstellung davon, was „Katastrophe“ bedeutet, unterliegt verschiedenen Interpretationen, die nicht immer den Fokus auf einen schrecklichen Ausgang haben müssen. Gerade in der Darstellung wird deutlich, dass es ein Davor und ein Danach gibt. Der erschreckende, vielleicht auch faszinierende Moment einer gewaltigen Zerstörung oder einer unkontrollierbaren Gewalt erklärt sich erst im Nachhinein durch die Suche nach Ursachen und Folgen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen sich in der Arena Mensch und Natur gegenüber. Landschaften sind Teil dieses komplexen Verhältnisses.

Ein Baum oder ein Fels sind keine Landschaft. Eine Landschaft setzt sich im Zusammenspiel vieler einzelner Elemente zu einer Gesamtheit zusammen, die trotzdem immer nur einen Ausschnitt umfasst. Sie ist gewissermaßen das Antlitz der Erde, die Oberfläche unseres Planeten in Gebiete und Regionen unterteilt. Aus Sicht der Wahrnehmenden kann sie bis zum Horizont reichen und verändert sich je nach Standort und Perspektive. Daher ist sie in ihrer Ausdehnung schwer zu erfassen.

Unterschiedliche und zahlreiche Kräfte wirken hier über die Zeit in einem fortwährenden formenden, verändernden Prozess zusammen. Belebte und unbelebte Natur, Sichtbares und Unsichtbares wandeln sich aber auch mit unterschiedlichen und wechselnden Geschwindigkeiten. So bleibt die Ansicht einer Landschaft eine momentane Aufnahme, deren zugrundeliegende Dynamik sich nur an Spuren ablesen lässt. Landschaften bewahren in ihren vertikalen Schichten, sowohl offengelegt als auch verborgen, ein Archiv der Erdgeschichte und darin enthaltene, sich ausbreitende Zeugnisse menschlicher Aktivitäten.

Denn Natur und Landschaft lassen sich nicht gleichsetzen.

Trotzdem: „Auch wo ihr Gegenüber nicht in erster Linie Naturlandschaft ist, führt sie uns ins Offene unserer naturverhafteten historischen Welt hinein.“, schreibt der Philosoph Martin Seel zur Erfahrung von Landschaft.[i]

Landschaft beschreibt außerdem eine Umgebung. Sie ist Teil der Umwelt, mit der kulturelle, soziale und politische Entwicklungen verknüpft sind. Kinder erkunden dort die Welt. Daraus erwachsen individuelle Erinnerungen sowie kollektive Erzählungen, die mit starken Emotionen aufgeladen sein können.

In der Darstellung finden sich Versatzstücke, die auf den Charakter oder die Identität einer Landschaft hinweisen und Formen von Ausdehnung, die in den mentalen Raum einführen.

Die Intention der Urheber:innen von Artefakten und deren Rezeption sind nicht zwangsläufig gleich.

„Landschaft ist eine Konstruktion in unserem Kopf, und jede Generation lernt Landschaft neu.“ Das Zitat entstammt einem Interview mit dem Kasseler Professor Martin Schmitz im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und einer unfreiwilligen neuen Lust am Gehen in Deutschland. Der Dozent und Autor beruft sich auf Lucius Burckhardt, den Begründer der Spaziergangswissenschaft, wenn er für eine langsame Bewegung und dadurch intensive Wahrnehmung der Umgebung plädiert. Darin spricht er sehr anschaulich das an, was viele selbst aus Reisen kennen, die ständige Wechselwirkung von eigenem Erleben und durch Erzählungen, Bilder – eine weltweit mediale Flut, Tendenz steigend – geprägte Vorstellung.[ii]

Technische Entwicklungen bedingen größere Mobilität sowie höhere Geschwindigkeiten auch in der Datenübermittlung. Reisende müssen sich körperlich nicht unbedingt irgendwohin begeben, wenn sie sich im virtuellen Raum bewegen. Somit sollten Computersimulationen mittlerweile Bestandteil im Fundus prägender Landschaftsbilder sein, auf den sie andernteils zurückgreifen.

Die Veränderungen betreffen genauso regionale und kulturelle Unterschiede, obwohl sie mit der Globalisierung partiell aussterben, verschwimmen oder überlagert werden.

Katastrophe oder Umbruch – es geht mehr oder weniger dramatisch zu: Der Punkt, an dem die Geschichte umschlägt! Michael Stockhausen zeigt deutlich, wie wichtig dabei gerade in der Abgrenzung zur langsamer sich hinziehenden Krise der zeitliche Aspekt ist. Die geologische Zeitrechnung umfasst im Vergleich zur Spanne eines Menschenlebens unfassbare Abschnitte. Doch gibt es auch dort plötzliche Ereignisse wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es in Europa gleich beides, das Erdbeben von Lissabon und den mehrfachen Ausbruch des Vesuvs, wobei die Zerstörung der portugiesischen Hauptstadt ein verheerenderes Ausmaß hatte. Der Begriff „Katastrophe“ gehörte damals noch mehr in die Welt des Theaters. Der Vulkan jedoch entwickelte sich durch die wachsende Aufmerksamkeit, die die Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum erfuhren, über die Jahrhundertwende zu einer Attraktion für die Italienreisenden, darunter Künstler und Gelehrte. Er wurde ein beliebtes Motiv für das Katastrophenbild. Die Faszination für Vulkane hatte aber auch Forscher ergriffen, die ihre Beobachtungen auf eine aktive Natur richteten. Wissenschaftlich motivierte Darstellungen entstanden und die des Chimborazo, der als höchster Berg der Erde galt, erlangte große Bekanntheit durch Alexander von Humboldts umfassendes Werk, den „Kosmos“, in dem der „Universalgelehrte“ die Ergebnisse seiner Reisen veröffentlichte. [iii]

Bewegung und Zeit – Von diesem Punkt aus lässt sich ein Faden zu Situationen spannen, deren Varianten sich in vielen biografischen Schilderungen auch der Kunstgeschichte finden. Mag es sich um Mythenbildungen handeln – zumindest ein wenig, interessieren sie hier als Beispiele einer außergewöhnlichen Begegnung. Sie erzählen von Wanderungen und Wegen durch eine besondere Gegend, davon innezuhalten und einen folgenreichen Augenblick der Inspiration oder Erkenntnis zu erleben.

Berühmt wurde die Besteigung des Mont Ventoux in der Provence durch Francesco Petrarca bereits im Jahr 1336, als das Durchstreifen der Landschaft keine Freizeitbeschäftigung war. Der Dichter, der die Ideen des Humanismus mitbegründete, war auch Geograph und Kartograph. Für die europäische Kunstgeschichte gilt die Renaissance als Epoche, in der die Landschaftsmalerei bedeutend entwickelt wurde. Auf dem Gipfel, „die Wolken unter ihren Füßen“, zitierte Petrarca den heiligen Augustinus.[iv] Ästhetische Naturerfahrung, christliche Religion und naturwissenschaftliches Interesse treffen aufeinander und wirken lange nach. Die Einführung der Zentralperspektive in die Malerei ermöglichte Raumdarstellungen, die der Wahrnehmung durch das menschliche Auge sehr nahe kommen. Erst die Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert konnte diese übertreffen.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts überfiel die Künstler:innen ein Drang nach draußen, der die bisherigen Bildungsreisen, gerne nach Italien, übertraf. William Turner berichtet, er habe sich vier Stunden lang im Schneesturm an einen Schiffsmast binden lassen. Claude Monet wäre, wieder laut eigenem Bericht, in einer Höhle in Etretat beim Malen während eines Unwetters fast ertrunken.[v] Wichtig schien beiden Malern, die Authentizität ihrer Erlebnisse im wilden Sturm und dem tosenden Meer, die in die Malerei erkennbar einflossen.

613 Jahre nach Petrarca auf dem Nordamerikanischen Kontinent: „Als ich aufrecht vor den Grabhügeln von Miamisburg stand (…), war ich verwirrt durch den absoluten Charakter der Empfindung, durch diese Einfachheit, die sich von selbst verstand.“… „Man betrachtet den Platz und man denkt: Hier bin ich, hier…und dahinten, da unten (über die Grenzen des Ortes hinaus), da ist das Chaos, die Natur, die Ufer, die Landschaften.“[vi]  Mit dieser Erfahrung von Zeit und Ort entstand für den Maler Barnett Newman, die Idee, die wichtige Rolle des Betrachters, der Betrachterin vor seiner abstrakten Malerei zu bestimmen.

Wie Newman bewegt sich die Autorin und Kuratorin Lucy Lippard in einem Gebiet, das menschliche Spuren trägt. In der Natur wollte sie vom Trubel des Kunstbetriebs ausspannen. „Hiking on Dartmoor…I tripped over a small upright stone. When I looked back over my shoulder, I realized it was one in a long row of such stones. They disappearred in a curve over the crest oft he hill. It took me a moment to understand that these stones had been placed there almost 4.000 years ago, and another moment to recognize their ties to much contemporary art.“ Lucy Lippard schildert diese Begegnung als Auslöser ihrer Untersuchung zu der Verbindung von Zeitgenössischer Kunst und der Prähistorie. „Later, a second level of that overlay emerged: the sensous dialectic between nature and culture that is important to me as a socialistic/cultural feminist, and the social messages from past to present about the meaning of art…“[vii]

Viele der von Lippard behandelten Kunstwerke lassen sich der Land Art oder Earth Art zuordnen, die nach den Umbrüchen der 1960er Jahre im Kunstschaffen entstehen konnte. Die künstlerischen Strategien wurden so erweitert, dass alltägliche Handlungen wie Gehen oder auch der Wissenschaft entlehnte Methoden wie Feldforschung, Soziologie, Geschichte und Naturwissenschaften, einbezogen wurden. Reisen, Wandern, Graben, Pflanzen – die Künstler:innen weiteten das Betätigungsfeld aus, die Arbeiten entstanden in und mit der Landschaft, mit natürlichen Prozessen außerhalb des geschützten Raums von Museen und Galerien. Der Ort löst das Objekt ab. Die Betrachter:innen müssen sich bewegen, weil es keinen idealen Standpunkt mehr gibt. Jedoch brachten die von der Kritik am herkömmlichen Kunstbetrieb geprägten Aktionen draußen gesammelte Materialien, Steine, Stöcke, Erde sowie eine Reihe von überarbeiteten Dokumentationsmedien, Landkarten, Fotos, Filme, Skizzen, Texte dorthin zurück.

Es gibt oder gab Werke, denn viele sind unter freiem Himmel wieder verschwunden, von extremer horizontaler Ausdehnung wie Robert Smithsons „Spiral Jetty“ an dem Großen Salzsee in Utah, heute im Wasser versunken, oder im Vergleich zur Landschaft eher kleine, wie die „Siluetas“ von Ana Mendieta, die sich an der Gestalt und dem Körper der Künstlerin orientierten. Ana Mendieta verstreute Blumen, setzte teilweise Schießpulver ein. Für Robert Smithson transportierten Laster 6783 Tonnen Erde. [viii]

„Über ihren (der Land Art, Anm. der Autorin) ersten Ausprägungen lag der Dunst von Diesel und Staub: hier tummelten sich Männer mit Schutzhelm-Mentalität, die ihre Identität fernab von Kulturzentren fanden, die Löcher gruben und Schneisen in Felsvorsprünge sprengten…“[ix] Obwohl manchen Unterfangen der Land Art, vorgeworfen wurde, eher als Zerstörung der natürlichen Umgebung zu wirken, öffnete sie den Raum für ökologische Projekte und trug bis heute zu einer Auseinandersetzung von Kunst, Kultur und Natur in der Globalisierung bei.  (Text Susanne Grube)



Natalia Wehler: Still aus Goma darf nicht mit, 2021
Roberto Uribe Castro: Seringueiros, Installation aus Autoreifen, 2021

Bruno Hadjih: Still aus Nomadland Radioactif

Mit Dunkelheit und Licht kann der Fotograf und Filmemacher Bruno Hadjih hervorragend umgehen. „Nous n´irons pas nous promener“, Fotodiptychen, und der Film „Nomadland Radióactif“ sind eine deutliche Anklage der französischen Atomversuche, die vertraglich vereinbart und in der algerischen Wüste unterirdisch durchgeführt wurden. Mit seinen Arbeiten erinnert der Künstler nicht nur an den unverantwortlichen Umgang mit einem vergessenen – leeren? – Landstrich, sondern bringt das Schicksal der dort lebenden Menschen ins Bewusstsein. Dichte, frontale Portraitaufnahmen, bei denen Haut und Bildoberfläche eins werden, bilden jeweils ein Paar mit Landschaftsfotografien, die den Blick bis zum Horizont führen. In den verlassenen Wüstenabschnitten zeugen ein Warnschild oder liegengelassene Flaschen von den vergangenen Eingriffen. Der Film dagegen erzeugt eine Atmosphäre von sich aufbauender Bedrohung. Lange Sequenzen stellen die Explosion und Druckwelle in ihrer Wucht, die entfesselten Kräfte dar, nicht die Verursacher, denn diese haben sich längst aus der Affäre gezogen. Gerade Wüstenbilder eröffnen mentale oft spirituelle Räume, führen zur Frühgeschichte der Erde oder sind aktuell gerne Schauplätze dystopischer Szenerien. Dabei wecken diese Landstriche, vermeintlich ohne organisches Leben, Begehrlichkeiten auf Rohstoffe und die weite Fläche zur Energiegewinnung oder für das Militär. Hadjih lenkt die Aufmerksamkeit darauf, was Macht anrichtet.

Wie-yi T. Lauw: Dunkle Paarung i

Die Künstlerin Wie-yi T. Lauw hat vor Ort die Installation „Dunkle Paarung I“ aus einer räumlich gewellten Drahtstruktur, etwas Plastikfolie, einem absichtlich vergessenen Gummihandschuh und exotischen Blüten geschaffen, die sich vertikal in die Höhe der Ausstellungshalle erstreckt. Die Pflanzen welken über die Dauer der Präsentation. Der Kontrast von organischem Material und Formen zu dem tragenden Gitter, das begrenzt, erzeugen eine Spannung aus Künstlichkeit und Natur, wobei eine Verbindung zur Landschaft eher indirekt besteht. Denn jede Pflanze hat eine ursprüngliche Herkunftsregion. Das Sammeln von Pflanzen, das Sortieren und Vergleichen, gehörte zu jeder europäischen Expedition in unbekanntes Terrain. Aus heutiger Sicht muss diese Haltung prinzipiell hinterfragt werden. „Das Sammeln exotischer Pflanzen gehörte zum Instrument von Kolonialisierungsprozessen und lässt sich selbst als Akt kultureller Aneignung deuten.“ (Lynn Busch) Andernteils erweiterten Forschungsreisende die Kenntnis über die Zusammenhänge von Geografie und Botanik, auf die die Naturwissenschaften aufbauen. Um zu verstehen, wie natürliche Prozesse und auch das Einwirken des Menschen Landschaften global gedacht formen, entwarf einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, Alexander von Humboldt, seinen Pflanzenatlas und veränderte damit den Blick auf Landschaften maßgeblich.

Wie-yi T. Lauw und Roberto Uribe Castro: Even dust can burst into flames

„Even dust can burst into flames“ geht auf eine gemeinsame Residenz von Roberto Uribe Castro und Wie-Yi T. Lauw in Portugal zurück und die Arbeit mit dort Vorgefundenem. Waldbrände hatten schnell entflammbare Eukalyptuswälder und Häuser vernichtet, Menschen starben. Die Spuren der Zerstörung fanden sich in der Landschaft und wurden nun nach Bonn in einen eigenen Raum getragen. Frottagen der verkohlten Baumstämme umkreisen das Nest aus gesammelten und gebogenen Zweigen im Zentrum. Die schnell wachsenden Eukalyptusbäume, heimisch auf einem anderen Kontinent, dienten als Rohstoff für die Papierherstellung, die einen hohen Wasserverbrauch nach sich zog und die Böden zusätzlich austrocknete. So kann die stille und doch bewegte Installation eine Geschichte erzählen, die Uribe Castro und T. Lauw bei ihrem Aufenthalt aus Erzählungen und durch Recherchen zusammengetragen haben.

Roberto Uribe Castro: Seringueros

Am Boden orientiert und performativ belegt die Installation „Seringueros“ des Künstlers eine große Fläche vor den Füßen der Betrachter:innen. Tiefschwarzer Staub, gemahlen aus Autoreifen, befreit sich aus den einheitlichen Formen, in die er gepresst wurde. Das dunkle, bröselnde Material erinnert an Erde, seine Form an Blumentöpfe, die teilweise gekippt und gerissen sind. Ordnung und Chaos treffen aufeinander. Vor allem der Titel deutet eine weitere Ebene an, indem er den Kampf der Kautschukarbeiter, der „Seringueros“ in Südamerika um bessere Lebensbedingungen einbezieht, die sich mittlerweile auch für den Schutz des Regenwaldes engagieren. Beide Installationen verquicken den Umgang mit natürlichen Ressourcen und politische Gegebenheiten.

Hiroyuki Kobayashi: Re

Der Künstler Hiroyuki Kobayashi sammelt kleine Steine und macht davon Abgüsse aus Metall, die er in Installationen verwendet. Trotz der Umwandlung bleibt eine Beziehung zu dem Fundort und dem Ausgangsstein bestehen. Zu einer rechteckigen Fläche ausgelegt in Anlehnung an eine traditionelle Tatamimatte, bilden sie ein begrenztes Feld mit individuellen aber verwandten Bestandteilen. Die horizontale Ausrichtung spiegelt sich in einer vertikalen Plexiglasscheibe. Die Vergangenheit und die Gegenwart stehen in Verbindung wie das Draußen und das Drinnen. Für Kobayashi bedeutet jeder Steinabguss eine Erinnerung. Bei „Re“ bietet die Tatami einen neuen Ort für die Gefühle und Erinnerungen der Menschen, die die Flutkatastrophe von Okoyama 2018 erlebten. Die Balance zwischen den persönlichen Empfindungen und kollektiven Traumata stellt eine Waage mit gefüllten Waagschalen her.

Rie Tanji: Tohoku Landscape

„I was born in Fukushima“ Diese Anmerkung hat die Künstlerin Rie Tanji in eine Landkarte von Japan eingefügt und eine Reihe von Bildern darum gruppiert. Die meisten Betrachter:innen in Bonn kennen Rie Tanjis Geburtsort aus den Medien, die über die verhängnisvollen Ereignisse 2011 ausführlich berichteten. Das Erdbeben, der darauffolgenden Tsunami und das Reaktorunglück, die große Zerstörungen und langfristige atomare Verseuchung mit sich brachten, haben der ansässigen Bevölkerung ihr Zuhause und Lebensgrundlage genommen. „Das Thema meiner Arbeit ist die Abwesenheit von Heimat, die Notwendigkeit eines Ortes, an dem man sich niederlassen kann, und wie diese Ambivalenz von Natur aus instabil sein kann.“ Rie Tanji spricht von einem Gefühl der Leere, der Abwesenheit von Natur nach der Katastrophe. Ihre reduzierten Grafiken in Schwarz- und Grauabstufungen auf einem weißen Grund fangen diese auf, Menschen und Gegenstände wirken wie Schatten. Die Landschaft, in der sie sich befinden, deutet sie mit wenigen Versatzstücken an. Wie groß die Gefahr ist, die von der Umgebung ausgeht und die von allem Wachsenden aufgenommen werden kann, misst nur ein Geigerzähler, nur ein Zahlenwert.

Grit Ruhland: Folgelandschaft

Auch die Künstlerin Grit Ruhland verwendet Landkarten und Zeichnungen. Auch sie setzt sich mit der Nutzung von Atomkraft in einem Landstrich auseinander, den sie mit Erinnerungen an ihre Kindheit verbindet. Doch erforscht sie einen langsamen Prozess, die Auswirkungen des Uranabbaus, nicht die eines katastrophalen Unfalls und macht diese sichtbar. Wissenschaft und künstlerische Aneignung gehen Hand in Hand. Denn Grit Ruhland beobachtete, protokolliert, sammelt im Freien Eindrücke und Materialien, die Bestandteile der interaktiven Arbeiten werden. Anstelle von Objektivität tritt eine empfindsame und kreative Annäherung. Sie gestaltet einen Birkenast-Geigerzähler, der angefasst und benutzt werden darf. Mit einer Reihe von dreibeinigen Tieren aus gefundenen Ästen greift die Künstlerin regionale Sagen von der Jagd nach diesen Wesen auf, die aufgrund der erhöhten natürlichen Radioaktivität tatsächlich existiert haben könnten. Die multi-mediale, museale Installation bezieht geografische, ökologische, ökonomische und kulturelle Aspekte der Bedeutung von Landschaft ein.

Natalia Wehler: Goma darf nicht mit

Seit dem Reaktorunglück in Fukushima lässt die Künstlerin Natalia Wehler das Thema Atomkraft, sei es der Einsatz für militärische Waffen oder die zivile Nutzung zur Energiegewinnung, nicht mehr los. Landschaftsansichten, die sie verwendet und zeigt, interessieren daher genau in diesem Zusammenhang. Sie gehören zu Orten, an denen Atomkraft eine Rolle spielt und fügen sich gleichwertig in eine Sammlung aus Motiven von Architekturen, Menschen und deren Aktivitäten ein. Nachrichten und Beiträge aus aller Welt in Form von Fotografien und Filmen sind die Quellen, aus denen sie das künstlerische Material aussucht und zu einem ständig wachsenden „Atomatlas“ verarbeitet. Dabei kombiniert sie alte, nach der Beschäftigung mit japanischem Holzschnitt, und neue Vervielfältigungstechniken. In der Ausstellung Redraw Tragedy zeigt sie zwei neue Arbeiten von einer Insel im japanischen Seto-Meer, die Holzschnitt und Projektion auf unterschiedliche Weise verbinden. Die Druckstöcke verleihen der „Caférunde“ und „Goma darf nicht mit“ eine materielle Präsenz, während beide Videos Fahrten auf der Reise wie flüchtige Eindrücke wiedergeben. Der Hund Goma steht in seiner gespiegelten Dopplung in Holz und auf dem Screen am Anfang einer Autofahrt an einer Küstenstraße entlang. Im Film folgt er so lange er kann, dem Fahrzeug und der Kamera. Die Gesellschaft, die sich an einem Tisch zusammengefunden hat und sich den Betrachter:innen zuwendet, hält der Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks auf der Insel zusammen. Das wiederum schlägt den Bogen über 9200 km nach Bonn. Die Malerin Gaby Kutz greift in ihren Arbeiten auf bestehende oft durch Nachrichten bekannte Bilder zurück, die sie zu einem Einzelwerk umwandelt und dadurch deren Bedeutung verstärkt. Die Aussagen in Malerei und Aquarell sind politisch motiviert. Weder zeigt sie Landschaftsmalerei in der Ausstellung, noch finden sich indirekte von der Künstlerin beabsichtigte Verweise. Erst eine wirkliche Naturkatastrophe, die Flut an Ahr und Erft, der Gaby Kutz´ Atelier zum Opfer fiel, hat ihre Bilder nun in Zeugnisse der weltweiten Auswirkungen des Klimawandels auf alle Lebensbereiche gemacht. Trotz einer Reinigung der Leinwände und Papiere haben sich Schlammspuren erhalten. Aus erweiterter Sicht hängen die Inhalte mit dem Kampf um Land, dem Überwinden und der Verteidigung von nationalen wie natürlichen Grenzen zusammen.

Gaby Kutz: Kindergeburtstag in Gill

Die Malerin Gaby Kutz greift in ihren Arbeiten auf bestehende oft durch Nachrichten bekannte Bilder zurück, die sie zu einem Einzelwerk umwandelt und dadurch deren Bedeutung verstärkt. Die Aussagen in Malerei und Aquarell sind politisch motiviert. Weder zeigt sie Landschaftsmalerei in der Ausstellung, noch finden sich indirekte von der Künstlerin beabsichtigte Verweise. Erst eine wirkliche Naturkatastrophe, die Flut an Ahr und Erft, der Gaby Kutz´ Atelier zum Opfer fiel, hat ihre Bilder nun in Zeugnisse der weltweiten Auswirkungen des Klimawandels auf alle Lebensbereiche gemacht. Trotz einer Reinigung der Leinwände und Papiere haben sich Schlammspuren erhalten. Aus erweiterter Sicht hängen die Inhalte mit dem Kampf um Land, dem Überwinden und der Verteidigung von nationalen wie natürlichen Grenzen zusammen.

[i] Martin Seel, Das Unsichtbare sichtbar machen. Zur aktuellen Lage des Austauschs von Kunst und Natur, in: Ferne Nähe. „Natur“ in der Kunst der Gegenwart, Ausstellungskatalog, Hg. Kunstmuseum Bonn, Köln 2009, S. S. 177, vgl. auch 173-181

[ii] Vgl. Interview von Martina Greulich mit Martin Schmitz, General-Anzeiger-Bonn, 23.4.2021, S.24

[iii] Vgl. Susanne B. Keller, Die Aneignung des Vulkanausbruchs zwischen Wissenschaft und Kunst, in: „Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600.“ Ausstellungskat. Hamburger Kunsthalle, Hg. Markus Bertsch und Jörg Templer, Petersberg 2018, S. 45-57; zu Humboldt allgemein: Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, München 2018

[iv] Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Hg. Walther Rehm, Stuttgart 1987, S. 328

[v] Eberhard Roters, Jenseits von Arkadien. Die romantische Landschaft, Köln, 1995, S. 50-52

[vi] Barnett Newmann zit. in: Jean-Francois Lyotard, Der Augenblick, Newman, in: Aisthesis, Hg. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter, Leipzig 1990, S. 366-367

[vii] Lucy Lippard, OVERLAY. Contemporary Art and the Art of Prehistory, New York 1983

[viii] Land and Enviromental Art, Hg. Jeffrey Kastner, Berlin 2004, S. 56-59 u. S. 121-123

[ix] Ebd., Vorwort von Jeffrey Kastner