INTERVIEW NATALIA WEHLER UND LUANA JULIANO


Natalia Wehler: Caférunde, 2020
Holzschnitt, Projektion, 240 x 100 cm
INTERVIEW NATALIA WEHLER UND LUANA JULIANO

LJ:

Seit zwei Jahren wird die Alltagsrealität der Menschen von der aktuellen Corona-Pandemie geprägt. Auch wenn es sich um eine globale Krise handelt, können die Auswirkungen auf den Einzelnen recht unterschiedlich sein. Wie hast Du als freischaffende Künstlerin das aktuelle Weltgeschehen bisher erlebt?

NW:

Ich muss sagen, dass ich mich da recht privilegiert fühle. Ich habe darüber schon mit vielen Kollegen/innen gesprochen. Wir haben das Privileg, dass wir arbeiten können, auch im Lockdown. Das ist etwas, was der Kunst eigen ist. Ich kann das immer machen, wenn ich will. Natürlich beeinflusst mich das im Tun und ich werde sicherlich etwas anderes arbeiten oder anders arbeiten, als ich das ohne diese, wenn man so will, Katastrophe machen würde. Aber im Vergleich zu anderen Menschen, die beruflich mit Publikumsverkehr zu tun haben oder sich ständig einer Infektion aussetzen müssen, die im Krankenhaus stehen und um das Leben von anderen Leuten kämpfen, habe ich wirklich immer das Gefühl gehabt, hier relativ sicher zu sein. Auch trotz aller Abstriche, die natürlich im Sozialen und Öffentlichen gemacht wurden, weiß ich das sehr zu schätzen.

Was in der Tat problematisch ist, ist der Umgang mit der Kultur generell, wie beispielsweise die schnellen Schließungen von Museen und Kunsträumen. Und auch mit dieser Ausstellung ist es so, dass einiges anders ist, als es geplant war. Die japanischen Künstler/innen beispielsweise können durch Corona nicht vor Ort sein. Aufgrund der Unplanbarkeit der Situation hat man manchmal auch das Gefühl fünfmal so viel arbeiten zu müssen, wie man eigentlich sowieso schon arbeiten müsste – das geht an die Kondition.

LJ:

Schon lange vor der aktuellen Pandemie hast Du mit deiner Arbeit, die sich inhaltlich mit einer Tragödie auseinandersetzt, begonnen. Seit 2011 arbeitest Du an einer Holzschnitt-Serie zum Thema Atomzeitalter. Waren die damaligen Ereignisse in Fukushima der Ausgangspunkt der Serie?

NW:

Ich habe schon davor und auch sonst immer mal wieder Serien angefertigt, die „politisch“ waren. Zu diesem konkreten Thema kam ich allerdings damals tatsächlich durch Fukushima, durch die Katastrophe dort und auch durch den Impact, den es auf mich hatte. Da war unter anderem diese Unfassbarkeit über solche ein Unglück in einem Industrieland, welches technologisch mit Deutschland durchaus vergleichbar ist. Dieser Umstand hat für mich eine gewisse Nähe hergestellt. Ebenso prägnant war das Gefühl, da geht gerade alles den Bach runter. Bis heute lässt sich nicht sagen, welche Auswirkungen die damaligen Ereignisse noch haben werden. Das hat mich dazu bewogen zu dem Thema zu arbeiten. Ich habe anfangs noch versucht mich mit meinen klassischen Medien dem Ganzen zu nähern, mit Malerei und Zeichnung, wo ich eigentlich herkomme. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass das für mich keine adäquate Mittel waren, um mit dieser komplexen Situation umzugehen. So bin ich dann zum Holzschnitt gekommen. Durchaus auch durch die Verwandtschaft zum japanischen Holzschnitt, die Methode mit der auch ich arbeite. Ich habe mir ein Medium gesucht, das eine Verbindung zu der Kultur und dem Land, das betroffen war, darstellt.

LJ:

Neben dem traditionellen Holzdruck und dessen kulturellen Bezug zu Japan, benutzt du auch moderne Multimedia-Elemente in deinen Werken. Du stellst zudem nicht nur die Holzschnitte, sondern auch oder nur den Druckstock selbst aus. Welche Rolle spielen Medien und ihre Funktion in deiner Arbeit?

NW:

Die Kombination aus gedrucktem Bild und dem Druckstock ist ein wichtiger Aspekt für mich. In der Technik steckt ein bestimmtes Potenzial, das traditionell in der Druckgrafik zu finden ist: die Vervielfältigung. Gerade in Krisenzeiten waren Druckgrafiken schon immer stark. Ob zur Illustration, also Verbildlichung von Zuständen oder auch mit technischem Bezug in Büchern. Überall wo versucht wurde, etwas zu zeigen und dies auch unter die Leute zu bringen, spielt die Druckgrafik eine Rolle. Somit ist sie auch ein Medium der Kommunikation. Dieser Aspekt steckt im Druck und in der Druckplatte selbst.

Die modernen Medien passen da organisch genau rein. Im Zeitalter des Internets ist das gedruckte Bild oder der gedruckte Text vielleicht zweitrangig, dennoch wird weiterhin mittels Bildverbreitung kommuniziert und vermittelt. So gesehen spiele ich also mit allen Perspektiven der Medien und der Vervielfältigung.

Zur Vervielfältigung muss es allerdings auch nicht immer kommen. Manchmal stoppe ich meine Bilder und führe sie nicht zu Ende. Das heißt sie bleiben in der Zeichnung oder es kommt nicht zu einem Druck. Der Prozess ist für mich entscheidend, als eine Art Aufforderung und indirekte Frage nach dem eigenen Potenzial.

LJ:

Spielt dann auch die Unvorhersehbarkeit eine Rolle, in dem Sinne, dass du nicht planst an einer bestimmten Stelle die Arbeit zu beenden?

NW:

Zum Teil, ja. Ich plane schon die Motive, da halte ich mich auch sehr strikt an meine Ideen. Aber die Unvorhersehbarkeit ist der Teil, der dem jeweiligen Prozess geschuldet ist und bei dem ich somit vorher auch nicht weiß was kommt.

LJ:

In einem Portfolio zu den atomaren Katastrophen schreibst du, dass eine Tragödie wie Fukushima zu der Annahme verleitet, es würden „danach“ klare Verhältnisse herrschen. Eine nachfolgende Gesellschaft müsste sich in klaren Worten beschreiben lassen, da das Problem, die Akteure und das Geschehene mit seinen Folgen in den Medien beinahe geordnet und kontrolliert dargestellt wird. Würdest du einer solchen „Klarheit“ nach einer Katastrophe widersprechen wollen?

NW:

In jedem Fall, da diese Eindeutigkeit nicht gegeben ist. Ich stelle mir häufig vor, wenn man irgendwann mal in einem Geschichtsbuch über Fukushima oder auch Tschernobyl liest, was wird da wohl stehen? Irgendwelche Fakten, vielleicht zwei oder drei Perspektiven, möglicherweise auch noch ein kritischer Satz. Aber das wird es sein. Vielmehr wird unserer Nachwelt nicht vermittelt werden. Es wird kaum etwas geschrieben stehen, wie „Tepco hat die japanische Regierung und das japanische Volk verarscht“ – wahrscheinlich nicht.

Für mich beginnt da eine Art Wechselspiel, auch in meiner Arbeit: Was wird in einem Bild vermittelt, was sieht der Rezipient darin? Ich habe viele Arbeiten gerade aus den Anfangszeiten, wo man blühende Felder oder schöne Landschaften sieht, die eigentlich erst durch den Kontext politisch werden – in dem Sinne, dass man dann weiß, sie haben etwas mit einer atomaren Verseuchung zu tun. Diesen Reiz, dieses Spannungsfeld versuche ich auszuloten.

In den letzten Jahren intensiviert sich dieser Aspekt auch in den Werken, in dem ich gewissermaßen angefangen habe, mehr „rein zu zoomen“. Vorher bin ich mehr von Pressebildern ausgegangen und von einem stark internationalen Blick auf die Sachen. Jetzt schaue ich auf bestimmte Länder, momentan sind das Japan und Deutschland, gehe mehr in die Details, arbeite auch mit meinen eigenen Filmen, meinen eigenen Fotos und versuche so nochmal einen anderen Blick auf bestimmte Themenkomplexe zu kriegen. Das ist für mich tatsächlich auch eine Art Forschungsreise, weil ich nie sicher weiß, was mich erwartet. Ich versuche ergebnisoffen damit umzugehen. In gewisser Weise bewege ich mich oft zwischen Kunst und Erkundung.

LJ:

Würdest Du sagen darin liegt auch eine Art Aufgabe der Kunst, in der umfassenderen Erkundung und dann auch Vermittlung, als es vielleicht andere Medien leisten?

NW:

Das ist eine schwierige Frage, die nicht eindeutig zu beantworten ist. Wenn Kunst etwas soll, fange ich immer an misstrauisch zu werden (lacht). Das ist etwas, was wir Künstler nicht gerne hören. Ich habe mir das auch nicht vorgenommen. Ich habe mir nie vorgenommen, irgendwas besonders Politisches zu machen. Ich mache das, was ich mache und natürlich denke ich darüber nach, was ich tue.

Ja, es stimmt, dass Kunst Dinge sichtbar macht und dass es auch „ihre Aufgabe“ ist, wenn man denn so will, sichtbar zu machen. Das passiert auch. Egal wie klar ich mich zu einem bestimmten Thema äußere oder wie klar das Thema ersichtlich ist, es passieren auch viele Dinge auf unterbewussten Ebenen. Das ist auch etwas was Kunst kann und was auch Literatur kann, etwas was andere Disziplinen vielleicht nicht können. Worin eine Einzigartigkeit besteht, den Menschen „zu erreichen“, wenn sie sich denn erreichen lassen wollen. So rum stimmt das.

Was aber nie stimmt, und das ist auch etwas, was leider oft nie richtig verstanden wird, man kann daraus nicht den Anspruch formulieren, dass die Kunst etwas zu tun hat. Das funktioniert nicht. Kunst ist frei und die Kunst macht, was die Kunst macht (lacht). Sie ist auch immer abhängig von dem, was der Betrachter letztendlich sieht oder sehen will. Das hat auch was mit Aufbereitung, mit Kunstmarkt, mit Kunstbetrieb zu tun. Das ist eine schwierige Diskussion und sehr spannend. Ich glaube sie müsste gerade jetzt geführt werden und sie wird auch geführt.

LJ:

Zum Thema „Zoom“, ich würde gerne noch auf das Werk, das Du in der Ausstellung zeigst, näher eingehen. In „Caferunde“ befinden wir uns in privaten Räumen. Kannst Du mir etwas mehr zu dem Werk erzählen und warum dieses Werk zu dem Ausstellungsprojekt „Redraw Tragedy“ dazugehört?

NW:

„Caferunde“ zeigt tatsächlich eine Kaffeerunde, erstmal unspektakulär (lacht). Diese Kaffeerunde ist lokalisiert auf einer kleinen japanischen Insel, die sich in der Seto-See befindet. Die Insel hat das Problem, dass vor ihrer Haustür seit gut 25 Jahren der Bau eines Atomkraftwerks in Planung ist. Die ansässigen Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten gegen diesen Bau gewehrt. Sie leben auch vielfach noch in Subsistenz, von Fischerei, Landwirtschaft, also sind sehr ländlich geprägt. Eine andere Welt.

Wenn man dort nun ein Atomkraftwerk bauen würde, hätte das Auswirkungen, nicht nur im Störfall, wenn etwas passieren würde, sondern auch allein schon, durch seine Existenz. Die gesamte Infrastruktur würde sich ändern, eine Form von Modernisierung würde stattfinden. Die See, die vorher nur für die Fischer da war, würde zum Fundament des Atomkraftwerkes werden.

Das ist genau das Spannungsfeld, was ich mit der Arbeit zeigen wollte. Es gibt Auseinandersetzungen in der Community: 90% stellen sich gegen den Bau, 10% sind dafür. Eine Sache, die mich vor Ort sehr beeindruckt hat, war ein junger Mann, der mir erzählte, dass er nach Fukushima auf die Insel „geflohen“ wäre. In den letzten Jahren wäre es nun aber so schlimm zu sehen, wie diese Auseinandersetzung mit dem Atomkraftwerk den Zusammenhalt der Community zerstört hätte. Die unterschiedlichen Meinungen zu dem Thema haben das gesamte soziale Gefüge auf der Insel nachteilig beansprucht.

Es ist doch interessant, dass es keine akut ausgebrochene Katastrophe braucht, sondern allein das Drohende, das in dem Moment über einem steht, schon zu schlimmen Auswirkungen führen kann. Das ist quasi die Geschichte hinter dem Bild.

Das was zu sehen ist, diese Community oder Gruppe, die dort sehr harmonisch bei- und miteinander sitzt, ist nochmal ein Sinnbild dafür, dass dieser Aspekt von Zusammenhalt und Gemeinschaft sehr wichtig ist, gerade in Krisen- oder Katastrophenzeiten. Für mich ist das ein Hoffnungsträger.

LJ:

Du bist ja nicht nur Ideengeberin des „Redraw Tragedy“-Ausstellungsprojekts, du bist ebenso ausstellende Künstlerin und hast auch die Räume mitgestaltet. Welchen Vorteil oder vielleicht auch Nachteil siehst du darin, wenn Künstler/innen auch gleichsam gewissermaßen Kurator/innen eigener Ausstellungen sind?

NW:

Ich selbst sehe mich normalerweise nicht als Kuratorin und lege auch großen Wert darauf, als Künstlerin verstanden zu werden. Das ist für mich auch ein Moment für diese Ausstellung, den ich wichtig finde. Ich bin sicherlich anders an die Auswahl der Leute herangegangen, als das vielleicht eine Kuratorin machen würde. Mir war der inhaltliche Austausch sehr wichtig. Das heißt aber nicht nur darüber sprechen, sondern auch die Kommunikation auf Werkebene. Die Parallelen oder auch Gegensätze, die man erkennen kann, gerade auch vor dem internationalen Kontext, fand und finde ich nach wie vor sehr spannend.

Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Hiroyuki Kobayashi, Wie-yi T. Lauw, Rie Tanji, Natalia Wehler

Ich habe die Arbeiten nicht danach ausgewählt, was besonders gut in den Raum passt. Ich habe die Arbeiten auch nicht nach dem Motto „hier brauche ich noch eine große Skulptur“ zusammengesetzt. Das sind Aspekte, die hätte ein Kurator sicherlich anders gelöst, aber meine treibende Kraft ist eine andere. Mir geht es um den Austausch, um die Vernetzung und auch darüber hinaus, was man sehen kann, wenn man denn hinguckt. Das ist auch ein Grund, warum ich mich gegen Texte an den Wänden entschieden habe. Die Besucher sollen erstmal gucken und dann gerne Halt in den Texten suchen. Aber erstmal möchte ich eine andere Möglichkeit geben, mit allen Risiken, die damit vielleicht einhergehen.

LJ:

„Redraw Tragedy“ ist nicht allein dadurch äußerst vielseitig. Die verwendeten Medien der Künstler/innen beispielsweise sind ebenso sehr unterschiedlich. Auch im Material und der Darstellung zeigt jede/r Künstler/in eine eigene Handschrift. Wie wird aus dieser Vielfältigkeit eine Art einheitliches Ausstellungskonzept? Was ist, wenn man so will, der rote Faden, der einen ein wenig durch die Ausstellung leitet?

NW:

Ich würde sagen, grundsätzlich ist es das Thema der Tragödie. Dieses Zusammendenken und auch gemeinsame Sachen sehen, das ist ja der Teil, der auch für mich spannend ist. Ich glaube für andere auch, an bestimmten Stellen. Zu entdecken, was hat denn jemand gemacht, der mit einem ganz anderen Medium arbeitet, der sich aber vielleicht in einer ähnlichen Situation befindet, wie ich selbst. Wir sind natürlich nicht in einem musealen Kontext, sondern wir bewegen uns in einer selbstorganisierten Institution und versuchen diesen offenen, freien Raum mit den Arbeiten zu füllen. Was wirklich schade ist, dass im Zuge von Corona, nicht alle Künstler/innen da sein konnten. Da mussten wir leider Abstriche machen. 

LJ:

Stichwort Corona, warum keine reine Ausstellung über Corona?

NW:

In der Arbeit von Roberto Uribe Castro mit den Seifen haben wir ja eine ganz klassische Corona-Situation aufgegriffen. Corona ist sonst in den Arbeiten nicht mit drin, das stimmt. Es wird sicherlich eine Menge Ausstellungen zu dem Thema geben, da mache ich mir keine Sorgen (lacht). Ich hätte zum jetzigen Zeitpunkt bei einer reinen Corona-Ausstellung Bedenken, ob das nicht zu plakativ wird, aber vielleicht irre ich mich da auch.

LJ:

Zumindest ist dies eine brandaktuelle Krise, in der wir mittendrin stecken.

NW: Das ist tatsächlich auch eine ganz interessante Frage, die im letzten Podium auch nochmal aufkommen soll, die Frage nach Zeit, Kunst und Katastrophe. Die Auseinandersetzung mit dem, was aktuell ist, kann auch durchaus reizvoll sein. Aber ich würde nicht, nur weil etwas gerade aktuell ist, auf den Zug aufspringen. Es ist ja auch bei vielen Künstler/innen nicht so, als würde man sein Thema, an dem man gerade arbeitet, ständig ändern. Ein Problem, das nicht selten gerade in der Förderlandschaft auftauchen kann. Mir fehlt da die Freiheit in der Kunst, die an vielen Stellen notwendig wäre. Das wäre etwas, das ich mir wünschen würde, um krisen- oder katastrophenfester sein zu können, dass sich die Kunstlandschaft auch ein wenig verändert und sich der Tatsache anpasst, dass wir nun in anderen Zeiten leben.



Natalia Wehler: Goma darf nicht mit, 2021
Holzschnitt, Video, 90 x 25 cm