MICHAEL STOCKHAUSEN: IL CORO SIAMO NOI


MICHAEL STOCKHAUSEN: IL CORO SIAMO NOI

Vom Außen ins Innen ins Außen, von dem Theater in die Alltagssprache „Iώ!” Der griechische Klageruf markierte den Einzug des Außen ins Innen, der Moment, da die Krise in die Katastrophe umschlägt und das Innerste des Helden betrifft. In der griechischen Tragödie war die Katastrophe immer etwas Persönliches, d. h. etwas eine Person Betreffendes. Der schmerzvolle Klageruf ist oftmals zugleich ein „Heureka“, ein Moment des Erkennens, in welchem den Helden sein eigenes Schicksal gewahr wird. Unerwartet trifft ihn das Fallbeil der Tragödie, während das Publikum das Zusammenbrauen des Katastrophengewitters vorhersehen kann. Hilfreich ist dabei der Chor, dem eine Mittlerrolle zufällt. Er kommentiert die Taten der Akteur:innen, bettet die Handlungen in die Geschichte der Menschen und Götter ein, tritt warnend, doch ungehört auf, fällt in die Klagerufe der Katastrophengeschädigten ein und tritt selbst unbeschadet mit einem letzten klugen Spruch ab. Wenn das Wehe, das „Iώ!”, im Rund der Arena erklang, erkennt der Held, was der Chor bereits weiss und das Publikum ahnt. „Iώ!”, “wehe!” – ich bin im Innersten erschüttert, ich gerate außer mir. In der griechischen Tragödie kehrt dieser Schrei des Helden das Außen ins Innen und entlädt, was nicht mehr haltbar, das Innen ins Außen.

ÖDIPUS: O weh, o weh! Das alles kommt ja klar heraus!

O Licht, zum letzten Male schau ich heute dich!

Der, wem er nimmer sollt, entsproß; umging, mit wem

Er nimmer sollte; wen er nicht gedurft, erschlug!

Eilt in das Haus.

Es sei bemerkt, dass das Innen nicht allein psychisch gedacht, sondern auch räumlich markiert ist. Drinnen, in seinem Haus, wird sich die Mutter von Ödipus, die zugleich die Mutter seiner Kinder wurde, erhängen und er sich mit ihrer Brustspange die Augäpfel ausstechen. Ähnlich öffnet sich bei Sophokles „Antigone“ der innere Raum des Hauses dem Außen und verwirklicht die Innen-Außen-Verschränkung im „Iώ!” des tragischen Helden.


Der Hintergrund hat sich geöffnet, man sieht die Leiche der Eurydike

Bote
Du kannst es schaun, das Innre birgt’s nicht mehr.

Kreon
Weh mir, da seh ich es, das zweite Leid!
Was erwartet mich ferner? Welch Todeslos?
Noch halt ich in den Händen mein Kind, o Jammer,
Und schaue einer Toten ins Gesicht!
O arme Mutter! O mein Sohn!

Die Katastrophe der griechischen Tragödie entbirgt ins Äußerste. Sie durchdringt Seelenleben, Umstände, sie durchdringt aber auch die architektonische Trennung von privat und öffentlich: Das Innen gerät außer sich, der Gestürzte ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Der Hintergrund hat sich geöffnet und man sieht die Leiche der Eurydike. „Das Inn’re birgt’s nicht mehr“; der Satz betrifft nicht nur die äußeren Lebensumstände des Einzelnen, sein öffentliches Leben, auch das Private ist der Katastrophe entäußert. Und „privat“, das waren v.a. die eigenen vier Wände und die Familie. Zudem, das sei vorweggenommen, durchdringt die Katastrophe auf zauberhafte Weise die Vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauer.

Der griechische Begriff katastrophḗ (= Umkehr, Wendung) gehörte nicht exklusiv der Tragödie. In der griechischen Gesellschaft wurde eine Katastrophe in ihrer Wortbedeutung offener verstanden. Etymologisch bezeichnete sie in erster Linie eine folgenschwere Wendung, die auch zum Positiven führen konnte. Zudem sind astronomische Dimensionen überliefert: Die Sterne konnten sich „wenden“ und auf die Erde in Form von Naturereignissen einwirken, so dass der Begriff eine universale Weite in sich trägt. Die Vorstellungen von einer Katastrophe „von oben“ scheinen sich dann im deutsche Lehnwort zu festigen, wenn man seit dem 16. Jahrhundert göttliche Verdammung mit Katastrophen assoziiert und apokalyptische Vorstellungen mit Fluten, Erdbeben oder Himmelsleuchten verband. Jedoch durchforstet man Grimms Wörterbuch, findet sich die Katastrophe noch nicht, auch die frühen Bibelübersetzungen haushalten mit dem Begriff erstaunlich sparsam, wenn sie ihn überhaupt verwenden.

Im deutschen Sprachgebrauch etablierte sich die Katastrophe anscheinend erst über die bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert und das im expliziten Bezug zur Tragödie und der weitrezipierten aristotelischen Dramentheorie. So liest man im Brockhaus Conversations-Lexikon von 1809: „Die Katastrophe (a. d. Griech.): die Umwendung, die Veränderung, wird hauptsächlich bei Schauspielen gebraucht, wo die Fabel des Stücks nach vielen vorhergehenden Verwirrungen und Bedrängnissen auf einmal eine unerwartete erwünschte Wendung nimmt, wodurch die Zuschauer unvermuthet überrascht werden. Es wird dann nun das Wort auch bei andern Begebenheiten gebraucht, und könnte also ungefähr der Entscheidungspunkt, der Glückswechsel genannt werden.“ (http://www.zeno.org/Brockhaus-1809/B/Die+Katastrophe)


Obgleich sich der Begriff Katastrophe über das Konzept der aristotelischen Tragödien-Theorie etablierte, ist der heutige Gebrauch des Begriffs oftmals schwer mit jener vereinbar, wobei er noch immer eng mit der Emotionalisierung des „Tragischen“ verbunden scheint. Dies lässt sich etwa bei dem Kompositum „Flüchtlingskatastrophe“ analysieren. Es lag nicht bei Europa, von einer „Katastrophe“ zu sprechen. In der griechischen Tragödie war die Katastrophe etwas, das eine Person betrifft, dessen Innerstes entbrigt und ihr oder sein Sein ins Äußerste kehrt. Das passierte auf Seiten derer, die über Land wie Meer flüchteten und Asyl suchten. Man nutzte den Begriff eher wie einen Bannfluch, um die von „außen“ hereinbrechende „Flut“ abzuwehren, Grenzen zu schließen und Zäune zu erhöhen? Ruhe wurde bei Mittelmeerstaaten erkauft, um den innenpolitischen Wähler*innen-Pakt nicht zu gefährden, da sich Wähler*innen-Ängste vor einer „Katastrophe“ ausbreiteten und emotional ein „Innen“ gegen ein „Außen“ in Stellung gebracht wurde.

Die begriffsgeschichtlichen Überlegungen zu „Katastrophe“ lassen festhalten: Das allgemeinere Wort katastrophḗ hat sich über die Rezeption der griechischen Tragödien und Theorie zu einem Fachterminus entwickelt und zog über die Kunst in die bürgerliche Kultur und den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Hier verallgemeinerte er sich erneut und wird heute relativ unspezifisch auf „Schreckliches“ einer unbestimmten Größe und Fallhöhe angewendet. Die Durchdringung von Innen und Außen, die auf der Bühne auch architektonisch in Bezug auf Haus und Familie vollzogen wurde, muss bei dem Begriff Katastrophe heute nicht gegeben sein, schwingt aber mit. Im Vorgriff und in Angst vor der Katastrophe belegt man Ereignisse mit dem Begriff, als wolle man so das Schreckliche fernhalten und selbst kein entbergendes Iώ! wirklich durchleben müssen; das wehevolle Klagen in der Katastrophe verkürzte sich zum warnenden “Wehe mir, dir, euch!” vor dem Eintritt schrecklicher Ereignisse. Das Persönliche der trag(öd)ischen Narrative ahnt und spürt man noch, haben sich aber mit den apokalyptischen Assoziationen ins Allgemeine gewendet. Was verloren ging, ist die Bedeutung der katastrophḗ als Wendung hin zu etwas überraschend Positiven, beschienen von einem guten Stern. Die Wendung zum Guten wagt man je weniger zu hoffen, je häufiger das Wort Katastrophe erschallt. Führt dies zu einer pessimistischen bzw. frustrierten Gegenwart, in der sich frustratio, die „Enttäuschung einer Erwartung“, zu oft einstellte und die unbestimmte Angst vor dem Iώ! unsere Welthaltung und –energeia lenkt? Was von der katastrophḗ im Sinne der antiken Dramen-Kunst in der alltagssprachlichen Ausweitung weiterhin fortlebt, ist die persönliche Affizierung, die der Begriff in uns auslöst, ein Moment innerer Alarmiertheit. Das Gefühl der Katharsis stellt sich dabei jedoch nicht ein, der innere Katastrophenschutz tritt auf den Plan. Die medial vermittelten Katastrophen nehmen wir wahr, erleben und durchleben tun wir sie nicht.